Sturmfluten - Die ständige Gefahr

Das Leben der Menschen an der Küste ist seit den Anfängen der Besiedlung durch den ständigen Kampf gegen das Vordringen des Meeres geprägt. Nach der letzten Eiszeit vor rd. 10000 Jahren verlief die Küstenlinie von Mittelengland über die Doggerbank nach Nordjütland. Seither ist der Meeresspiegel um rd. 40 m angestiegen, was zu einem Vordringen der Nordsee um rd. 300 km nach Süden führte. Zwischen 800 v. Chr. und kurz nach Chr. ist dieser Entwicklung offenbar eine ruhigere Phase gefolgt, denn die ersten Besiedlungsspuren aus dieser Zeit lassen erkennen, dass die Wohnanlagen ebenerdig angelegt wurden und somit keines Schutzes gegen Sturmflut bedurften. Danach begann der Meeresspiegel wieder stärker anzusteigen. Die Siedler sahen sich gezwungen, für ihre Behausungen Erdhügel (Warften, Wurten) aufzuschütten, um sich und ihr Hab und Gut vor Sturmfluten zu schützen. Anfangs hatten die Warften nur eine Höhe von wenigen Dezimetern. Im Laufe der Zeit mussten sie den weiter wachsenden Sturmflutwasserschäden immer neu angepasst werden; schließlich erreichten sie bis zu 5 m. Viele sind noch heute erhalten.

Durch den Bau von Warften konnten die Küstenbewohner zwar sich selbst, ihre Behausungen und ihr Vieh vor Überflutungen sichern nicht aber ihre Ländereien, von deren Erträgen sie leben mussten. Diese wurden durch Überflutungen mit Meerwasser versalzen und dadurch für die Nutzung schwer geschädigt. Aus dieser Not heraus entstand der Zwang auch die Ländereien gegen die See zu schützen. Es mussten Deiche gebaut werden. So entstanden die ersten Deiche um das Jahr 1000 n. Chr. in Form regional begrenzter niedriger Erdwälle. Sie mussten in Handarbeit aufgeworfen werden und konnten das Land wohl nur in der Vegetationsperiode gegen Sommerfluten schützen. Eine durchgehende Deichlinie – der goldene Ring – wird vermutlich erst um 1200 n. Chr. vorhanden gewesen sein. Durch den Deichbau wurde die natürliche Entwässerung der Küstenregion abgeschnitten. Deshalb mussten die bestehenden Wasserläufe mittels verschließbarer Öffnungen durch den Deich hindurchgeführt werden. Dafür wurden Siele konstruiert. Ihre Fluttore schließen sich selbsttätig durch Wasserüberdruck von außen. Durch zusätzliche Ebbetore lässt sich auch der Binnenwasserspiegel regeln. Wo eine ausreichende natürliche Vorflut wegen der steigenden Meereswasserstände nicht mehr vorhanden ist, müssen Schöpfwerke, die die Binnenentwässerung sicherstellen, gebaut werden. In den Jahrhunderten nach dem Deichbau mussten die Küstenbewohner hohe Belastungen für die ständige Erhaltung und Erhöhung der Deiche tragen.

Die Anwohner waren deichpflichtig und mussten damit die Pflege, Nutzung und Unterhaltung von Deichteilstücken (Pfänder) übernehmen. War ein Deichpflichtiger nicht mehr im Stande, sein Deichpfand zu unterhalten, so musste er zum Zeichen dafür seinen Spaten in den Deich stechen. Damit gab er nicht nur die Deichunterhaltung auf, sondern auch sein Eigentum hinter dem Deich. Wer den Spaten aus dem Deich herauszog, übernahm damit die Pflicht der Deichunterhaltung und damit auch das Eigentum seines Vorgängers. Dem sogenannten Spatenrecht entspricht die bekannte Forderung: „De net will dieken, mut wieken“ – wer nicht deichen will, muss weichen –. Vom 12. bis 16. Jahrhundert durchbrachen zahlreiche schwere Sturmfluten die Deiche und verursachten große Verluste. Allein in der Marcellusflut vom 16. Januar 1362 verloren an der Nordseeküste etwa 100.000 Menschen ihr Leben. An der niedersächsischen Küste entstanden in jenen 4 Jahrhunderten der Dollart südlich von Emden, die Leybucht südlich von Norden, die Harlebucht nördlich von Wittmund und der Jadebusen östlich von Wilhelmshaven mit mehreren Durchbrüchen zur Weser. Schwere Sturmfluten in der neueren Zeit waren die von 1825, 1855, 1906, 1962 und 1976. Inzwischen hatte der Deichbau aber einen solchen Stand erreicht, dass sich die Verluste in Grenzen hielten. Im Laufe der Jahrhunderte gelang es teilweise auch, verloren gegangenes Land zurückzugewinnen. Die wiedereingedeichten Flächen (Polder, Groden) sind meistens erkennbar am Vorhandesein alter Deichlinien (Schlafdeiche).

Neue Maßstäbe für den Küstenschutz setzte die Orkanflut vom 16./17. Februar 1962. Allein in Niedersachsen brach der Deich an 61 Stellen, rd. 300 km Deiche waren beschädigt, rd. 370 km2 besiedelten Landes wurden überflutet, Menschen und Vieh ertranken, Häuser wurden zerstört. Eingehende Untersuchungen führten zu der Erkenntnis, dass die vorhandenen Deiche keinen ausreichenden Schutz mehr boten. Es wurden neue Bemessungswasserstände und Wellenauflaufhöhen, angepasst an neu entwickelte Deichquerschnitte (Profile), festgelegt. Das darauf aufbauende Küstenschutzprogramm umfasst die Erhöhung und Verstärkung von 585 km Deichen, den Bau von 650 km Deichverteidigungswegen, sowie von 24 neuen Sielen und 7 Schöpfwerken. Die Maßnahmen sind zum größten Teil durchgeführt worden. Im Überlebenskampf gegen die See gibt es keinen Stillstand. Der Wasserspiegel der Nordsee steigt weiter und mit ihm die Sturmfluthöhen.

Sturmfluten
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